“Überfordert sein von sich und der Welt” – damit ist man in der Lebens- und Sozialberatung oder im Coaching immer mal wieder konfrontiert. In manchen Fällen kann eine (vielleicht unerkannte) Hochsensibilität oder Hypersensitivität dahinterstecken. Dabei handelt es sich nicht um eine psychische Erkrankung, sondern um Menschen, deren Wahrnehmungsfähigkeiten und Empfindungsvermögen überdurchschnittlich stark ausgeprägt sind. Eine HSP (“Highly Sensitive Person”, zu deutsch “hochsensible Person”) nimmt mehr und feinere Einzelheiten auf, sie verarbeitet sie – im Vergleich zur Mehrheit der Menschen – ausführlicher und tiefer. Diese höhere Empfänglichkeit und Empfindlichkeit besteht sowohl gegenüber äußeren als auch inneren Reizen und Sinneswahrnehmungen. Auf neurologischer Ebene findet man eine besondere, veranlagungsbedingte Konstitution der Reize verarbeitenden neuronalen Systeme vor.
Hochsensibilität zeigt sich unter anderem durch:
- umfangreiche, nuancenreiche und subtile Wahrnehmung
- tiefgehende, komplexe und differenzierte gedankliche Verarbeitung von Informationen
- hohe Gefühlsintensität und emotionale Reaktivität
- generelle leichte Überregbarkeit
- langes Nachhallen der Eindrücke
Schätzungen zufolge sollen diese Merkmale auf etwa 15-20% aller Menschen zuzutreffen, dennoch ist es nicht immer einfach, die Hochsensibilität zu erkennen und den Alltag entsprechend zu gestalten. Laut US-Psychologin Elaine Aron (der Begründerin des HSP-Konzepts) zählen Verarbeitungstiefe, Sinnessensibilität, Übererregbarkeit und Emotionale Intensität zu den Indikatoren für Hochsensibilität. Ihrer Meinung nach ist die sogenannte „Verarbeitungstiefe“ der Sinneseindrücke – also die gründliche Verarbeitung von Information – das wesentliche Hauptmerkmal. Ein besonders aufmerksames, detailliertes Beobachten und ein vertieftes Nachdenken gehen bei HSP dem Sprechen und Handeln voran.
Zwischen Genie und ganz normalen Wahnsinn
Da hochsensible Personen eine gute Auffassungsgabe besitzen und ebenso gut Analogien herstellen können, glauben viele davon, auch gleichzeitig hochbegabt zu sein. In den letzten Jahren gibt es immer mehr Coaches, die sich des Themas der Hochsensibilität angenommen haben und ihre Coachees darin unterstützen, darin eine „vielseitige Hochbegabung“ zu sehen.
Laut Definition versteht man aber unter Hochbegabung ein “weit über dem Durchschnitt liegendes Maß an Intelligenz”. Das entspricht bei uns etwa einem IQ von über 130 – dies soll angeblich auf 2,2% aller Menschen zutreffen. Wenn es danach geht, können also – rein statistisch gesehen – nicht alle hochsensiblen Menschen auch gleichzeitig hochbegabt sein.
Es gibt aber noch andere wesentliche Unterschiede als nur den IQ. Hochbegabte können unter anderem problemlos 5-7 Gedankengänge im Kopf parallel managen, ohne aus der Ruhe zu kommen und haben generell einen Hang zu „Multitasking“. Das würde bei Hochsensiblen schnell zu Reizüberflutung führen. Hochbegabte brauchen aber auch einen ständigen Informationsstrom, damit ihnen nicht langweilig wird und neigen auch manchmal dazu, ihr Umfeld zu ignorieren, um ihren Interessen nachzugehen, die in keinem Bezug zu ihrem Umfeld stehen. Bei Hochbegabten stehen dabei meist logische Zusammenhänge, Zahlen, Daten, Fakten und Sachinformationen im Vordergrund – bei Hochsensiblen dreht sich dagegen viel um Emotionen und Sinneseindrücke.
Neben der oben erwähnten guten Auffassungsgabe gibt es aber auch noch weitere Ähnlichkeiten. Auch Hochsensible neigen dazu, in Gesprächen schnell das Thema zu wechseln, da sie Zusammenhänge schneller als ihr Gegenüber erfassen, stark assoziativ denken und so komplexe Gedankengänge rasch erschließen. Auch „nichts tun“ fällt einer HSP schwer.
Die Beweggründe dafür sind aber meist andere als die eines Hochbegabten. Da die erkannten Zusammenhänge eher auf einer intuitiven und emotionalen Ebene stattfinden, könnte man fast sagen, dass Hochsensible einen besonders hohen EQ (emotionalen Quotienten) haben und damit für Emotionen das sind, was Hochbegabte in Bezug auf den IQ sind. Auch das ausgeprägte Einfühlungsvermögen von HSP würde dafür sprechen.
Der individuelle Leidensdruck einer hochsensiblen Person
Was aber hochsensible Personen zu einem Coach oder Berater führt, ist meist der persönliche Leidensdruck. Also die eigene Dünnhäutigkeit als zunehmende Belastung zu sehen, ständig von zuviel Emotionen und Sinneseindrücken überlastet zu werden. Sie erleben sich als „ständig auf Empfang“ und tun sich im Alltag schwer damit, sich abzugrenzen.
Ihnen fällt es auch nicht leicht, befriedigende Kontakte zu knüpfen, da es oft an einer gemeinsamen Übereinstimmung des Fühlens und Denkens mangelt.
Was kann nun einer HSP auf ihrem Weg helfen?
Die oben angesprochene Gleichsetzung von Hochsensibilität mit Hochbegabung scheint es eher nicht zu sein, da diese meist den Druck noch weiter erhöht. Da zweifelt eine HSP dann eher noch mehr an sich, wenn sie feststellen muss, dass sie nicht mit der erhöhten Erwartung mithalten kann. Es ist daher viel zielführender, die wirklichen Stärken herauszuarbeiten, die nicht nur in der oben besprochenen tieferen Emotionalität liegen, sondern auch in gründlicher Reflexion, hoher Empathiefähigkeit und starker Intuition. Früher dürften Hochsensible als Seher, Heiler und Visionäre hochgeschätzt gewesen sein.
Oft hilft es schon, endlich einen Begriff für das “nicht-ganz-der-Norm-entsprechen” zu haben, HSP fühlen sich davor oft unverstanden und nicht-zugehörig, sie wissen nicht, was mit ihnen los ist. Das führt nicht selten zu Selbstzweifeln und Verunsicherung (oft noch verstärkt durch die Mitmenschen, die sie als “Sensibelchen” abstempeln) und zu einem Gefühl von “ich bin nicht stark genug”, weil der Zustand der Überreizung viel früher eintritt als bei den meisten anderen Menschen. Dabei liegt es nicht daran, dass Hochsensible weniger aushalten – sie nehmen einfach viel mehr Reize wahr! Das bewusste Annehmen (und dann auch Wertschätzen) der eigenen Veranlagung, eine tiefe Akzeptanz für sich und die besondere Art mit Sinneseindrücken und Gefühlen umzugehen zu entwickeln, ist die Grundlage für alle weiteren Entwicklungsprozesse. Kurz: Die Wahrnehmung von Stärken und die Akzeptanz von Schwächen.
Welche Themen im Coaching mit hochsensiblen Personen eine wichtige Rolle spielen
Aufbauend auf einem soliden Verständnis der eigenen Besonderheiten und Veranlagungen, lohnt es sich u.a. folgende Lebensbereiche bzw. Themen in einem individuellen Coaching anzusehen:
- Freiheit und Selbstbestimmung
Besonders im Berufsleben tun sich HSP manchmal schwer. Zu sehr fühlen sie sich in ihrer überfließenden Kreativität und ihrem inneren Ressourcenreichtum von herrschenden Strukturen eingeschränkt. Oder sie brauchen immer wieder Ruhe, vielleicht sogar Schlafpausen zwischendurch (diese bringen übrigens oft geniale Ideen), häufiges Essen und Trinken und minimierte Außenreize – also eher nicht das hektische Großraumbüro… Hier eine Balance zu finden, oder den Schritt in eine Selbstständigkeit zu wagen, kann eine der Aufgaben im Coaching mit HSP sein. - Erkennen der inneren Motivation
In der intensiven emotionalen Landschaft einer HSP fällt es oft schwer, einen beständigen Faden für langanhaltende Motivation zu finden. Was macht mir wirklich Lust? Was begeistert mich langfristig? Dies hilft dabei, an einer Sache dran zu bleiben, ohne seine individuellen Qualitäten zu verleugnen. - Intuition und Empathie als wichtige menschliche Werte
Oft fällt es Hochsensiblen schwer, ihre eigene Intuition und Empathie als wirkliche Werte und Talente anzusehen – vor allem in einer Gesellschaft, die diese nicht immer aktiv fördert. Umso wichtiger ist es für HSP, diese für sich selbst schätzen und einsetzen zu lernen. - Balance von Aktivität und kreativen Pausen
Hochsensible haben oft gelernt, über ihre benötigten Ruhepausen hinweg zu gehen und landen daher manchmal im Burnout. Da sie häufiger physische und psychische Rückzugsphasen brauchen als die meisten ihrer Mitmenschen, halten sich HSP leicht für „zu schwach“ und beginnen noch härter zu arbeiten. Zu erkennen, dass sie durch ihre überlegene Auffassungsgabe aber auch weniger Zeit für die Umsetzung vieler Aufgaben benötigen, und sich daher auch die Pausen gönnen dürfen, ist ein wichtiger Schritt in der Begleitung einer HSP.
Abschließend ist noch einmal zu betonen, dass das Erkennen der Hochsensibilität keine Stigmatisierung darstellen soll, sondern von vielen Betroffenen als eine befreiende Einsicht erlebt wird, endlich eine Erklärung für ihr „Anderssein“ zu haben. Dies ist bereits der erste Schritt auf dem Weg zur Akzeptanz und gleichzeitig dafür, nötige Anpassungen im eigenen Lebensstil vornehmen zu können.
Wer sich als Coach oder Lebensberater in diesem Thema weiterbilden möchte, der findet in der mittlerweile reichhaltigen Literatur zum Thema – u.a. in den Büchern von Elaine Aron, zum Beispiel „Sind Sie hochsensibel?: Ein praktisches Handbuch für hochsensible Menschen. Das Arbeitsbuch” gute Ressourcen für die Arbeit mit hochsensiblen Klienten.