Eines Tages lief einem Bauern das einzige Pferd fort und kam nicht mehr zurück. Die Nachbarn hatten Mitleid mit dem Bauern und sagten: „Du Ärmster! Dein Pferd ist weggelaufen – welch ein Unglück!“ Der Landmann antwortete: „Glück oder Unglück, wer weiß das schon?“
Nach Eingen Tagen kehrte das Pferd zurück und brachte ein Wildpferd mit. “Wie wunderbar”, sagten die Nachbarn: „Erst läuft dir das Pferd weg – dann bringt es noch ein zweites mit! Was hast du bloß für ein Glück!“ Der Bauer wiegte den Kopf: „Wer weiß, ob das Glück bedeutet?“
Das Wildpferd wurde vom ältesten Sohn des Bauern eingeritten; dabei stürzte er und brach sich ein Bein. Die Nachbarn eilten herbei und sagten: „Wie schrecklich. Welch ein Unglück!“ Der Landmann gab zur Antwort: „Wer will das wissen, ob dies ein Unglück ist?“
Kurz darauf kamen die Soldaten des Königs und zogen alle jungen Männer des Dorfes für den Kriegsdienst ein. Den ältesten Sohn des Bauern ließen sie zurück – wegen seinem gebrochenen Bein. Da riefen die Nachbarn: „Was für ein Glück! Dein Sohn wurde nicht eingezogen!“
Glück und Unglück wohnen eng beisammen, wer weiß schon immer sofort, ob ein Unglück nicht doch ein Glück ist?
Eine Kurzgeschichte von Christian Morgenstern