Gesünder essen, weniger rauchen, häufiger bewegen, öfter aufräumen, … Wahrscheinlich kennst du das von dir selbst – oder wenn du als Coach mit Klient/innen arbeitest – sehr gut: Für jegliche Veränderung braucht es ein gutes Maß an Selbstdisziplin.

Machen wir uns nichts vor, wenn von Selbstdisziplin die Rede ist, dann verbinden wir damit meist große Mühen und Anstrengungen. Essgewohnheiten bei Diäten umstellen, sich zu mehr Sport zu zwingen, Drill, Selbstkontrolle, ewiges Üben und Trainieren von neuen Verhaltensweisen. Allesamt keine so ganz attraktiven Assoziationen.
Ja, man könnte sogar zu dem Schluß kommen, Selbstdisziplin braucht fast einen gewissen Hang zum Masochismus und „wenn es nicht weh tut, dann wirkt es nicht“ ;)

Der Beginn der Erforschung von Selbstdiziplin

Wie häufiger in unseren Artikeln wollen wir einen kleinen Blick auf die Hirnforschung werfen, um dem Wirken der Selbstdisziplin auf die Spur zu kommen. In den 60er Jahren führte Walter Mischel von der Stanford University zum ersten Mal den sogenannten „Marshmallow-Test“ durch. Dieser wurde in den letzten Jahren mit geänderten Rahmenbedingungen immer wieder durchgeführt – mit ähnlichen Ergebnissen. Dabei wurde Kindern im Vorschulalter ein Marshmallow angeboten. Sie durften nun entscheiden, ob sie diesen Marshmallow gleich essen wollen, oder lieber ein wenig warten und dafür dann 2 Marshmallows zu bekommen. Es ging also darum, ob eine kurzfristige Bedürfnisbefriedigung zugunsten einer langfristigen und potentiell größeren Belohnung in Kauf genommen wird (Impulskontrolle – oder, wissenschaftlich gesprochen “Gratifikationsverzicht”).

Damals hat man festgestellt, dass manche Kinder Selbstdisziplin hatten und manche eben nicht, welche Gehirnregionen dabei beteiligt waren und was das für Auswirkungen auf die Persönlichkeit der Kinder hatte. Denn die größte Überraschung bot die Follow-Up Studie Jahre später: Die geduldigen, selbstbeherrschten Kinder, die gewartet hatten, waren zu sozial kompetenten, selbstbewussten Charakteren gereift, die bei College-Aufnahme-Tests höhere Resultate erreichten und insgesamt als im Leben kompetenter erlebt wurden als ihre ungeduldigeren Kolleg/innen. Seither hält sich die Auffassung, dass die Fähigkeit zur Selbstdisziplin und zum Belohnungsaufschub ein Kennzeichen von starken und erfolgreichen Persönlichkeiten ist.

Einen ganz anderen Ansatz erforscht Alexander Soutschek von der Universität in Zürich seit Anfang der 2000er Jahre mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten, hier ergaben sich neue Erkenntnisse in Bezug auf die Selbstdisziplin, die sich bis heute bestätigt und erweitert haben.

Wenn du das hier liest, wirst du Selbstdisziplin nie wieder so sehen wie zuvor!

Soutschek erforschte dabei eine Gehirnregion, die sich etwa einen Fingerbreit diagonal vom rechten Ohr befindet (Temporoparietal Junction) und die neben der Selbstdiziplin interessanterweise auch für Altruismus und Empathie zuständig ist. Mit Hilfe von Magnetfeldern ist es möglich, diese Gehirnregion temporär abzuschalten oder anzuregen und dann zum Beispiel Versuche wie den oben beschriebenen Marshmallow-Test und eine Vielzahl anderer zu unternehmen, um damit Rückschlüsse über dessen Auswirkung auf unseren Lebensalltag zu ziehen.

Was sich bei der Erforschung dieses Gehirn-Areals zeigte: Je größer dieses ist, desto mehr konnten sich die Versuchspersonen uneigennützig verhalten. Bei Stimulation der Region fällt es Menschen leichter, die Perspektive von anderen einzunehmen. Je mehr vernetzte Synapsen dort vorhanden sind, desto weniger voreingenommen reagieren die Probanden. Bei einer „Abschaltung“ dagegen reagierten die Personen impulsiver als zuvor.

In einer Reihe von Tests zeigte Soutschek, dass Versuchspersonen bei der ausgeschalteten Gehirnregion eher dazu neigen, eine bestimmte Summe Geld für sich zu behalten, statt sie zu teilen. Bei dieser “Marshmallow-Variante für Erwachsene” ging es darum, eine bestimmte Summe Geld gleich zu bekommen oder nach einiger Zeit den doppelten Betrag. Wenn das altruistische/empathische Zentrum abgeschalten war, nahmen die Freiwilligen das Geld direkt und verzichteten darauf abzuwarten, um eine größere Summe später zu bekommen.

Beide Versuche zeigten nicht nur den direkten Zusammenhang zwischen fehlender Selbstdisziplin (Impulsität) und Selbstsucht, sondern auch die Verbindung zwischen Selbstlosigkeit und Selbstdisziplin.
Also nochmal kurz zusammengefasst: Geringere Aktivität im Gehirnzentrum entsprach impulsiver und selbstbezogener Handlung. Angeregte Aktivität entsprach mehr Selbstdisziplin und Einfühlungsvermögen.

Was bedeutet das nun für deinen Alltag?

Unsere Fähigkeit zur Empathie hängt also überraschenderweise eng mit unserer Fähigkeit zur Selbstdisziplin zusammen.
Die bisherige Vorstellung, Selbstdisziplin wäre also nur durch mühsame Selbstgeißelung zu erreichen, scheint so nicht zu stimmen. Ganz abgesehen davon, dass es auch für die Einübung guter Gewohnheiten im Alltag (also auch einer Art von positivgerichteter Selbstdisziplin) verschiedene Tipps und Tricks gibt, damit das nicht allzusehr an Drill und Selbstgeißelung erinnert… Aber davon ein ander Mal mehr :-)

Empathie ist ja auch die Fähigkeit, aus der eigenen Perspektive herauszutreten und die Sichtweise anderer annehmen zu können.
Selbstdisziplin funktioniert also sehr ähnlich: Wir entwickeln hier aber Empathie für unser zukünftiges Ich!
Wir treffen dann unsere Entscheidung auf der Basis, was für unser zukünftiges Ich das Beste wäre (mehr Marshmallows, mehr Geld etc).

Ganz praktisch bedeutet das, dass sich dein Gegenwarts-Ich zurücknimmt, um deinem Zukunfts-Ich etwas Gutes zu tun!

Selbstdisziplin bedeutet also nicht automatisch, uns möglichst geschickt selbst zu züchtigen, solange bis ein gewünschter Erfolg eintritt, sondern ist ein liebevoller und mitfühlender Akt uns selbst gegenüber.
Statt uns zu Diät, Sport oder Verhaltensänderungen zu zwingen, nehmen wir eine andere Perspektive ein und fragen uns: Warum möchte ich in Zukunft fitter und gesünder sein?

Weil ich mich mag und ich will, dass es mir gut geht.
Weil ich mit meinen (Enkel)-Kindern noch herumtollen möchte.
Weil ich in der neuen engen Jean glänzen will.
Weil ich beim Business-Run nicht hinter allen anderen ins Ziel kommen möchte.
Weil ich mit mir zufrieden sein möchte.
Weil…

Wir schlüpfen also in die Schuhe unseres Zukunfts-Ich und erkennen, wie gut es ihm gehen wird, wenn wir ihm in der Gegenwart helfen.

Wie gut kann es also deinem Zukunfts-Ich gehen, wenn du die Erkenntnisse aus diesem Artikel gleich umsetzt? Dich nicht weiter unter Druck setzt, sondern dir vorstellst, wie du liebevoll zu deinem zukünftigen Ich bist?

So wie man Empathie mit anderen Menschen erlernen kann, so ist es auch mit dem Mitfühlen mit dir selbst möglich. Was wäre also, wenn du dich fragen würdest, wie du mit dir selbst liebevoller umgehen kannst – so ganz ohne Druck?
Zum Glück unterstützt dich dein Gehirn dabei und hat Empathie und Selbstdisziplin biologisch perfekt dafür vorbereitet.