Als Coach oder Lebens- und Sozialberater gilt es immer wieder Entscheidungen zu treffen. Nicht nur in Beratungen mit Klienten (Wie kommen wir in Rapport? Welche Frage stelle ich jetzt? Welches Modell würde hier passen? Welche Metapher könnte hilfreich sein? …), sondern auch die eigene Berufs- und Lebenssituation betreffend.
Allzu oft folgt nämlich auf die große Phase der Begeisterung – mit ersten Beratungsgesprächen, Visitenkarten verteilen und Ideen zur Websiteerstellung – eine Phase der Ernüchterung: Wie komme ich nun zu meinen Klienten? Wie vermarkte ich mich selbst am besten? (Dazu gab’s schon mal einen Blogbeitrag…). Und spätestens bei der Business-Plan-Erstellung: Wie kann sich das wirklich ausgehen mit meinen Einkommensvorstellungen?
Und vielfach lautet die Lösung: Workshops anbieten. Seminare leiten. Vorträge halten. Das bringt direkt Geld aufs Konto – und möglicherweise auch einige Menschen in die Einzelberatung ;-).
Kompetent vor Leuten zu stehen und effektiv mit Gruppen zu arbeiten stellt Coaches und LSB jedoch immer wieder vor unvorhergesehene Herausforderungen. Punkten sie doch im “normalen” Arbeitsalltag sehr oft mit Empathie und der Fähigkeit, sich ganz auf diesen einen Menschen, der da bei ihnen sitzt, einzulassen – und plötzlich sind sie mit mehreren Menschen konfrontiert, die unterschiedliche Interessen, Wertvorstellungen und Hintergründe haben. Und im Regelfall auch noch ungeniert die Kompetenz, Souveränität, Autorität und das Wissen der Person “da vorne” auf die Probe stellen. Da ist es dann sehr beruhigend, über Entwicklungsphasen und (Rang-)Dynamiken in Gruppen Bescheid zu wissen, diese steuern zu können und einige Alpha-Interventionen in petto zu haben.
Gruppendynamik – Rangdynamik – Rangdynamisches Positionsmodell
Für Lebens- und Sozialberater, Coaches und Trainer gilt hier dasselbe Prinzip: jeder Vortrag, jedes Seminar, jeder Workshop ist anders – und doch laufen die Dynamiken in Gruppen nach bestimmten Mustern ab. Diese zu durchschauen und zu erkennen hilft enorm, um kompetent mit mehreren Menschen zugleich arbeiten zu können. Abgesehen von den Entwicklungsphasen einer Gruppe (zB Forming – Storming – Norming – Performing – Reforming nach Tuckman) gibt es noch einen weiteren spannenden Ansatz, der vor allem für das “erfolgreiche Überleben” als Trainer / Lehrer nutzbar ist.
Das Modell der Rangdynamik (nach Raoul Schindler auch oft rangdynamisches Positionsmodell genannt) erklärt das Zusammenspiel der unterschiedlichen Rollen, die in einer Gruppe angenommen werden. Schindler, ein österreichischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker und Psychiater, hat es in den 1950er Jahren aufgrund seiner Beobachtungen in unterschiedlichen Gruppen aus seinem Arbeitsumfeld entwickelt.
Das Rangdynamik-Modell besagt im Wesentlichen, dass in Gruppen ab drei Personen – egal ob Schulklasse, Seminargruppe, Gruppentherapie oder Arbeitsteam – immer drei, manchmal vier Positionen eingenommen werden, bei denen es um Einfluss, Macht und Führung geht.
Alpha
Anführer, Initiativträger, Richtungsgeber; die Alpha-Position wird von der “Führungspersönlichkeit” eingenommen, die gerade an der Macht ist und den Weg zum Ziel vorgibt, Verhandlungen mit “dem Gegenüber” führt, Entscheidungen trifft und die Gruppe nach außen repräsentiert.
Gamma(s)
Ganz “normale” Gruppenmitglieder ohne Führungsanspruch, Gefolgschaft von Alpha (die diesen dadurch auch bestimmen und an der Macht halten); Menschen in der Gamma-Position identifizieren sich stark mit dem Ziel von Alpha und unterstützen diesen durch Zuarbeiten, bejahende Reaktion auf seine Vorschläge, dem Versuch, andere auf die Seite von Alpha zu ziehen und missbilligende, gelangweilte oder aggressive Reaktionen auf Einwürfe Omegas.
Omega
Gegenpol zu Alpha, repräsentiert auch die Gegenrichtung in der Gruppe, oft auch als “Sündenbock”, “Querulant”, “Störenfried”, “Bremser” oder “Nörgler” bezeichnet; die Omega-Position reagiert am stärksten gegen Alpha, bringt Gegenvorschläge, hinterfragt kritisch, zeigt Widerstand gegen die Art der Zielerreichung oder das Ziel selbst, widersetzt sich dem gemeinsamen Weg und spricht auch mal an, was Gammas heimlich denken.
Beta
Neutrale Position ohne Identifikation mit Alpha, ist als einzige Position nicht immer vorhanden und oft von Experten oder Spezialisten besetzt; die Beta-Position gibt unabhängige fachliche Einwände oder Ratschläge um die Gruppe (und oft auch Alpha) zu unterstützen, wird von Alpha in kritischen Situationen zu Rate gezogen, ist aber weniger angreifbar und dadurch auch potentieller Kandidat für die Nachfolge von Alpha.
Je nach Aufgabe, Ziel und neu auftretenden (Außen-)Ereignissen wechseln die Menschen, die diese Positionen innehaben, mitunter rasant – und meist ganz unbewusst; die Dynamik in Gruppen entsteht durch die Interaktion der unterschiedlichen Rollen/Positionen miteinander.
Als Trainer oder Workshopleiter ist es sehr hilfreich, die Bedürfnisse der unterschiedlichen Positionen zu kennen, um diese passend anzusprechen. So ist es beispielsweise dem Gruppenklima sehr zuträglich, den Gammas das “Untertauchen” in der Gruppe zu gestatten, Alpha auf seiner Seite zu haben, das Beta zu loben / bestätigen und dafür zu sorgen, dass die anstrengende Omega-Rolle immer mal wieder von anderen Personen eingenommen werden kann.
Außerdem ist es sinnvoll, in die unterschiedlichen Positionen schlüpfen zu können, um der Gruppe das Erreichen bestimmter (Lern-)Ziele zu erleichtern. Besonders die Alpha-Rolle stellt da für viele Coaches und Lebens- und Sozialberater eine Herausforderung dar, gilt es doch hier nicht nur die empathische Seite hervorzukehren, sondern auch mal heroisch aufzutreten oder die eigene narzistische Ader durchblitzen zu lassen.
Wer dafür eine Spielwiese zum Üben und Professionalisieren sucht: Das Erkunden dieser drei Alpha-Ausprägungen (heroisch, empathisch, narzistisch), wie man als Beta oder Omega führen kann und welche Interventionen in kritischen Situationen Erleichterung bringen sowie viele Übungen und Beispiele zur Rangdynamik sind unter anderem auch Teil der Trainerausbildung beim il-Institut.